SympathieMagazin
Türkei verstehen
Nuriye Billici beneidet ihren Sohn. Firat ist gerade mal 16 Jahre alt und er trifft sich mit seiner 15-jährigen Freundin regelmäßig im „Sesamkringel-Palast". Der Simit Sarayi ist die türkische Alternative zu McDonalds oder Starbucks. Hier gibt es Tee, Sesamkringel und einheimische Gerichte, statt Hamburger, Kaffee oder Muffins.
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Was Mutter Nuriye eigentlich beschäftigt - in ihrem Beitrag für das in der fünften Neuauflage erschienene SympathieMagazin „Türkei verstehen" -, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich das verliebte Paar heute treffen kann. Im Unterschied zu früher. Noch vor 20 Jahren gab es allenfalls Teegärten mit getrennten Abteilungen für Familien und Männer. „Als junges, unverheiratetes Paar lief man stundenlang durch die Stadt. So richtig niederlassen konnte man sich nicht."
Und auch Mitautorin Melke Mustu beschäftigt sich mit dem Wandel in ihrer Heimat. Die Universitäts-Dozentin sagt über sich selbst: „Wenn ich Zeitung lese (...), dann gibt es mich eigentlich überhaupt nicht." Den Medienberichten zufolge sitzen unsere Frauen zuhause, um für Mann und Kind zu sorgen." Sie sieht ihr Land als „Schlusslicht und Spitzenreiter." Während die Türkei bei der Geschlechtergleichheit innerhalb der OECD-Staaten an letzter Stelle liegt, besetzt sie zugleich - zusammen mit Finnland - eine Spitzenposition: „Zwölf Prozent aller Unternehmen werden in der Türkei von Frauen geführt."
Türkei im Vorwärtsgang - die Dynamik eines Schwellenlands
Über solche Veränderungen ist der auf dem Land lebende Mehmet Perҁin nicht so glücklich. Sie verunsichern den jungen Einzelhändler, weil sein traditionell geprägtes Weltbild davon ausgeht. dass für das Leben und das Wohlergehen der Familie sowieso der Ehemann verantwortlich ist. Seufzend registriert er die Stadt-Mädchen: „Hosen, kein Kopftuch, einige sogar mit Handy ..."
Tatsache ist: Die Türkei hat in den vergangenen zehn Jahren gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch einen enormen Entwicklungsprozess durchschritten. Unterstützt und beflügelt durch die EU-Beitrittsperspektive. Und eine rasant wachsende Ökonomie (jeder zweite Fernseher in europäischen Wohnzimmern stammt aus Anatolien) hat dazu geführt, dass sich die Kaufkraft binnen eines knappen Jahrzehnts vervierfacht hat.
„Obwohl die Türkei noch Defizite in Bezug auf Menschenrechte, Minderheitenschutz und eine liberalere Verfassung aufweist, arbeitet sie intensiv an den notwendigen Reformen zum Erreichen der EU-Vollmitgliedschaft", heißt es im neuen ,,Türkei verstehen."
Die Türkei ist den sogenannten Maastricht-Kriterien als Voraussetzung für eine wirtschaftliche EU-Beitrittsfähigkeit näher als mancher EU-Mitgliedsstaat wie zum Beispiel Griechenland. Doch während die EU noch zögert, eine Vollmitgliedschaft der Türkei ernsthaft in Erwägung zu ziehen, hat sich das Land am Bosporus womöglich längst entschieden. Die Türkei „sieht sich als Zentrum einer weit gefassten Region", so die Autorin Christiane Schlötzer, und die neue Außenpolitik - gute Beziehungen zu den einstigen Feindstaaten -, hat dem Land lukrative Märkte eröffnet." Mit anderen Worten: „Die Türkei schaut nach Osten, um im Westen anzukommen."
Text: Klaus Betz